Literaturgespräch
Um ihr altes Zuhause in Süditalien zu verkaufen, fährt ein Großvater mit seinem Sohn und dem Enkel ein letztes Mal in seine frühere Heimat.
Die Literaturgespräche finden in Zukunft abwechselnd in der Bücherei in Runkel, auf dem Kreiser 8a, und in Villmar im Schwesternhaus statt.
Rezension (bv.)
Nicolas Großvater Leonardo stammt aus Barletta, einem kleinen Städtchen in Apulien, von wo er in den 50er Jahren nach Mailand zog, um der Armut als mittelloser Landarbeiter zu entfliehen. Die Wohnung im Süden wollte er nicht aufgeben, um sich die Möglichkeit einer Rückkehr offen zu lassen. Jetzt aber ist er alt, das Haus am Meer verfällt und wird deshalb von der Familie nicht einmal mehr als Feriendomizil genützt. Nun soll alles verkauft werden und Nicola, sein Vater Riccardo und der Großvater machen sich auf den Weg Richtung Süden. Nicht nur die Hitze heizt die Atmosphäre im Wagen während der langen Fahrt auf, vor allem auch die schon bestehenden Spannungen zwischen den Generationen tragen dazu bei. Schonungslos wird Bilanz gezogen und alte Wunden brechen erneut auf. In Barletta versuchen die drei, die verwahrloste Wohnung wenigstens so weit herzurichten, dass sie wieder bewohnbar ist. Vor allem dem Großvater wird hier schmerzlich bewusst, dass sie in ihrer Heimat zu Fremden geworden sind. Freunde von früher sind gestorben, viele lehnen die "Auswanderer" ab, wenige geben ihnen noch das Gefühl der Zugehörigkeit. Letztendlich müssen sie die Wohnung weit unter Wert verkaufen.
- Ist Heimat dort, wo man wohnt, oder dort, wo man herkommt, oder ist Heimat nur ein Zuhause in Erinnerungen und Träumen? Neben dem allgemeinen Generationenkonflikt wird in diesem Roman das Thema Entwurzelung und Entfremdung auf beachtenswerte Weise in den Blick genommen.
Rezension Autor*in (bv.):Josef Schnurrer
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"Das Leben ist gut" von Alex Capus
Ein Roman über das Menschsein - vor allem aber eine Hymne an die Liebe.
Rezension (bv.)
Der Ich-Erzähler Max betreibt eine Bar in Olten in der Schweiz. Er ist ein konservativer, beständiger Mensch, der die Einfachheit, die Routine und das Verwurzeltsein in seiner Heimatstadt liebt. Veränderung braucht er nicht zum Glücklichsein, wohl aber seine Kinder und die Liebe seiner Frau Tina. Das wird ihm besonders bewusst, als sie beruflich nach Paris geht und die beiden zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren getrennt sind. - Max erzählt von seinen Freunden, von seiner Familie und von den Menschen, die in seine Kneipe kommen. Seine Fabulierfreude scheint in jeder Beschreibung und in jedem wiedergegebenen Gespräch auf. Dabei geht es nicht um Spektakuläres, sondern um kluge Beobachtungen, das Nachsinnen über allgemeine Phänomene, die Frage, was das Wesentliche ist im Leben und die Lust am Erzählen. Immer wieder verliert Max sich in Geschichten, die ihn im Stil von "Was wäre, wenn ..." und "Es könnte ja sein, dass ..." aus seiner momentanen Situation davontragen. Das kluge, aber auch oft erheiternde Ergebnis dieser phantastischen Exkursionen macht den Reiz dieses Romans aus.
Rezension Autor*in (bv.):Ulrike Braeckevelt
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Unser Buch im Februar 2024: "Unter der Drachenwand" von Arno Geiger
Das letzte Kriegsjahr verbringt Soldat Veit Kolbe als Verwundeter in beschaulicher Idylle im Salzkammergut.
Rezension (bv.)
Anfang 1944 kommt Soldat Veit Kolbe verletzt aus Russland nach Hause. Er zieht sich an den Mondsee im Salzkammergut zurück, wo ein Onkel Postenkommandant ist und ihm ein Zimmer besorgt. Dort kuriert er eine Splitterverletzung aus und schluckt Pervitintabletten gegen seine Angstattacken. Auf Krücken humpelnd erkundet er das beschauliche Landleben. In der Nachbarschaft ist eine Lehrerin mit einer Schar halbwüchsiger Mädchen auf Landverschickung untergebracht. Ein Bruder der Quartiersfrau, der sich nach Brasilien träumt, züchtet im Gewächshaus Orchideen und Tomaten. Und als Zimmernachbarin hat er die Darmstädterin Margot mit ihrem Säugling. Die beiden kommen sich nach und nach näher.
- Arno Geiger bringt mit den Tagebucheinträgen des Soldaten Veit einen neuen Ton in die Kriegsliteratur. Der Protagonist ist voller Empathie, anfangs beobachtet er das Geschehen mit leichter Distanz, doch zunehmend verwickelt er sich in die Belange der anderen. Außer Veit kommen noch weitere Stimmen zu Wort: Briefe von Margots Mutter aus Darmstadt, Liebesbriefe von Kurt an seine Freundin Nanni in der Kinderlandverschickung und Aufzeichnungen des Juden Oskar auf der Flucht. Diese Mischung lässt Veits Liebesgeschichte vor einem plastischen Hintergrund lebendig werden.
- Ein großartiger Roman, demnächst bei uns ausleihbar.
Rezension Autor*in (bv.):Karin Blank
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Edgar Selge: "Hast du uns endlich gefunden"
Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik.
Rezension (bv.)
Nicht ganz eine Autobiografie, aber völlig vereinnahmend durch die wechselnden Aspekte und dichte Durchdringung der seelischen und familiären Situation eines Knaben in den 1950er Jahren ist Edgar Selges Buch ein fesselnd erschütternder Bericht aus dem Nachkriegsdeutschland und legt zugleich die Anatomie der Entwicklung zu einem der erfolgreichsten Schauspieler offen.
Offenheit, vor allem sich selbst gegenüber, ist das herausstechende Merkmal dieser Lebensbeschreibung. Als Kind von Flüchtlingen, der Vater ein zu Prügeln neigender musikalisch begabter Gefängnisdirektor, 1948 in Ostwestfalen geboren, erlebt er mit seinen Brüdern jene diese Epoche bezeichnende Konstellation aus Verdrängung, gewalttätiger Disziplinierung und dem Spagat aus Schöngeistigkeit und alltäglicher Grausamkeit. Die Schatten der Nazi-Vergangenheit geben dem Bild dieser Kindheit ebenso Kontur wie die eigenen Sehnsüchte und Nöte des jungen Edgar.
Selbst noch in Schilderungen sexuellen Missbrauchs durch den Vater sind die Verbundenheit und Bewunderung, das bürgerliche Milieu und kindliche Verzweiflung spürbar, der allein durch Verstellung und Schauspielerei zu begegnen ist. Mit dem Wechsel aus erzählenden Kapiteln, Reflexionen, Träumen und fiktiven, kurzen Gesprächen versteht es Selge, die Leser/-innen in den Bann zu ziehen und wie ein Schauspieler die Wahrheit schonungslos durch das Darstellen unterschiedlicher Situationen und Stimmungsebenen zu offenbaren.
Edgar Selge sei Dank für diese Offenbarung und die Leser/-innen aus allen Büchereien erwartet eine für Schauspieler-Autobiografien gar nicht gewöhnliche, umso packendere Lektüre, die viel über unsere deutsche Geschichte und Mentalität erzählt. Herzliche Empfehlung.
Rezension Autor*in (bv.):Helmut Krebs
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Dror Mishani: Drei
Tel Aviv: Ein Mann, drei Frauen und jede Menge Lügen.
Orna hat Gil über ein Dating-Portal für Geschiedene kennengelernt. Emilia aus Lettland hat Gils Vater bis zum Tod gepflegt und ist auf spiritueller Spurensuche. Die dritte Frau, Ella, trifft ihn in einem Café, wo sie an ihrer Masterarbeit schreibt.
Der Roman dreht sich um ein Verbrechen, das aber nicht im Vordergrund steht. Er besteht aus drei Teilen, die aus der Perspektive der Frauen erzählt werden. Zuviel Inhalt darf man nicht verraten, um den Lesespaß nicht zu verderben. Handelt es sich um einen Krimi? Jedenfalls nicht um einen konventionell erzählten.
- Der israelische Autor Dror Mishani (Jg. 1975) wurde mit seinen Kriminalromanen rund um Inspektor Avi Avraham international bekannt. Er ist Literaturwissenschaftler, sein Spezialgebiet ist die Geschichte der Kriminalliteratur. So experimentiert er mit dem Genre und lotet seine Grenzen aus. Und er weiß, wie man die Leser mit unerwarteten Wendungen packt und durch einen emotionalen Tonfall berührt. Sein spannender Roman führte wochenlang die Bestsellerliste in Israel an, eine TV-Serie ist in Vorbereitung - Unbedingt empfehlenswert!
Für den Borromäusverein rezensiert von Karin Blank
"Bergland" von Jarka Kubsova - unser Buch im Juli 2023
Eine Bergbauerngeschichte aus Südtirol.
Der Roman spielt in den vierziger Jahren in dem abgelegenen Ort Tiefenthal in Südtirol. Rosa, eine junge Frau und Bäuerin, bringt ihren Hof ganz alleine durch. Sie versteht die Natur und lenkt die Geschicke des Hofes, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Das läßt selbst die gestandenen Bauern im Ort staunen. Der Fortschritt bedroht ihren Hof in den Bergen, sie stemmt sich mit aller Macht gegen die Neuerungen. Denn dieser Hof ist ihr Schicksal. Selbst die Liebe kann sie nicht von diesem Ort fortlocken.
Es vergehen Jahrzehnte, Rosas Enkel Hannes und dessen Frau Franziska sind auf Feriengäste angewiesen, damit sie den Hof weiter bewirtschaften können. Es passiert ein tragisches Unglück, die Zukunft des Hofes steht auf dem Spiel. Jetzt, zwei Generationen später, erweist sich Rosas Vermächtnis als aktueller denn je.
Das Buch gibt es als Taschenbuch im Buchhandel, oder kann in der Bücherei in Villmar demnächst kostenlos entliehen werden.
Wir freuen uns über neue Teilnehmer, sie bereichern unseren Kreis.
Marianengraben von Jasmin Schreiber:
Tim war ein lebensfrohes Kind voller Ideen und Tatendrang, ganz im Gegenteil zu seiner älteren Schwester Paula. Im Urlaub mit den Eltern passiert das Unglück, Tim ertrinkt beim Baden. Paula kann den Verlust ihres geliebten kleinen Bruders nicht verkraften und fällt in eine tiefe Depressionen, tief wie in die Tiefen des Marianengrabens. Ihr Therapeut rät ihr, das Grab ihres Bruders zu besuchen. Sie überwindet sich und geht mitten in der Nacht auf den Friedhof. Dort trifft sie Helmut, der heimlich die Urne seiner verstorbenen Frau ausgräbt. Aus dieser Zufallsbekanntschaft wird eine Zweckgemeinschaft. Beide fahren mit Helmuts Wohnmobil zu den Orten, an denen Helmut die Asche verstreuen will.
Ein ernstes Thema, aber die Geschichte enthält immer wieder unfreiwillig komische Szenen, die auch mal fast ins Absurde abgleiten, aber nie albern sind. Beide Reisegefährten lernen sich kennen und verstehen. Für Helmut nimmt die Reise ein anderes Ende wie für Paula, die wieder zurück ins Leben findet.
- Eine sehr anrührende Geschichte ohne falsches Pathos und sehr empfehlenswert.
Angelehnt an die Rezension von Lotte Schüler, Borromäusverein
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Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht
Höchst amüsantes und unterhaltsames Portrait eines „deutschen Ruhestandsspießers“, der sich plötzlich um seine kranke Frau und den Haushalt kümmern muss.
Zum Inhalt des Romans:
Der pensionierte Elektrofachverkäufer Walter Schmidt, seit 52 Jahren mit Frau Barbara verheiratet, ist ein „Durchschnittslangweiler“, ein Spießer, der seiner Gattin bei der Hausarbeit ein Leben lang nicht ein einziges Mal geholfen hat. Infolgedessen ist Herr Schmidt auch mit Ende Siebzig weder in der Lage, eine Tütensuppe zuzubereiten, noch vermag er Kaffee zu kochen.
Als er seine Frau eines Morgens, offenbar halbseitig gelähmt, auf dem Badezimmerfußboden findet, wird er aus seinem gewohnten Gleis geworfen. Herr Schmidt, wie er im Erzähltext konsequent genannt wird, ein Mann alter Schule, altmodisch, reaktionär und fremdenfeindlich, steht zu Beginn des Romans ratlos in der Küche, weil er nicht weiß, wie viel Kaffeepulver man nehmen muss.
Doch er lernt dazu, entdeckt den Fernsehkoch Medinski und dessen Facebook-Seite, auf der er schon bald Anleitungen findet. Nach und nach beginnt Walters raue Fassade zu bröckeln - und mit ihr die alten Gewissheiten über das Leben und wie es verlaufen soll.
Denn dass Barbara nie mehr gesund werden wird, weiß Herr Schmidt zu Beginn noch nicht; und auch später, wenn er es wissen könnte und sollte, wird er es sich nicht wirklich eingestehen, sondern vor seinen Freunden beteuern: „Barbara stirbt nicht“.
Das literarische Spiel mit der verfehlten Selbsteinschätzung des alten Mannes sorgt für viel Situationskomik in einem Handlungsverlauf, der eigentlich tragisch ist. Dass Barbara sterben wird, wissen nicht nur der/die Leser/-in, sondern auch alle Protagonisten - außer Herrn Schmidt. Doch es geht Bronsky nicht darum, seine Läuterung vorzuführen. Vielmehr ist es ein mutmachendes Szenario, das sie entwirft. In einer Krisensituation wie dieser zeigt sich nämlich, dass Menschen auch in extremen Situationen Momente des Trosts finden können - und dass es niemals zu spät ist, um sich persönlich weiterzuentwickeln. Im wahrsten Sinne des Wortes köstliche und leichte Unterhaltung mit Tiefgang.
Rezension (bv.) von Ileana Beckmann
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